Wachsen im heiligen Raum

Bei indigenen Kulturen nimmt der (von den weißen Siedlern so bezeichnete) ‚Medizinmann‘ in der Funktion des Master of Ceremony (MC) traditionell die Rolle ein, die bei uns Ärzte, Priester, Therapeuten, Berater und Coachs innehaben. Er fungiert als Heiler für körperliche, mentale und seelische Beschwerden. Ratsuchende kommen jedoch auch zur Orientierung in Lebensfragen zu ihm – und nicht nur, wenn sie sich „krank“ fühlen. Der MC gestaltet und führt durch eine Zeremonie. Er arbeitet ebenso wie der Coach häufig prozessorientiert und inhaltsfrei.

“Wie coacht der MC (Medizinmann)?”

Mit der Brille eines Coachs oder Trainers betrachtet ist das Methodenspektrum des MC sehr vielfältig: Trance und hypnotische Sprache, Familienaufstellungen, Ressourcen-Arbeit, Metaphern und Storytelling, Körperarbeit, erlebnisorientiertes Lernen, Einsatz von Artefakten u.v.m.

Nach unseren Erfahrungen im Reservat sind wir überzeugt: Indigene Kulturen haben uns in der heutigen Zeit noch viel zu sagen. Das größte Lernpotenzial liegt jedoch nicht in einzelnen Ritualen oder „Schamanen-Tools“. Vielmehr ist es die Haltung des MC, von der wir auch in unserer Welt profitieren können.

Kommunikation im „heiligen Raum“

In der Vorstellung der indigenen Völker Nordamerikas sind wir nicht nur allzeit miteinander verbunden, sondern im persönlichen Kontakt auch immer Teil eines Prozesses, der sich schwer in Worte fassen lässt. Metaphorisch verbindet uns in der Kommunikation ein gemeinsames Wesen, das sich zwischen den Menschen bildet. Was können wir daraus lernen? Kommunikation ist in diesem Verständnis kein Senden und Empfangen von Botschaften, sondern vielmehr ein „gemeinsames Geschehen“. Menschen kommen in diesem Sinne nicht als klar abgrenzbare Identitäten zueinander, sondern als „Erfahrungswolken“, in deren Mitte etwas Neues entsteht.

Das Konzept ist in unserer Welt noch sehr ungewohnt und es steht bisher kaum eine angemessene Sprache zur Verfügung, darüber jenseits der Metapher zu sprechen. Unser Lehrer in Deutschland, Tom Andreas (Köln), spricht vom „Wesen des Diskurses“ und meint damit etwas sehr Ähnliches. Martin Buber, der jüdische Religionsphilosoph, spricht vom „sacred space“ – vom „heiligen Raum“, der zwischen Menschen im Kontakt entsteht. Wir bezeichnen diesen Prozess als das „Wesen der Kommunikation“.

Was würde ein MC dem Coach für seine Arbeit empfehlen? Vielleicht dies:

  • Fixiere dich nicht auf den Klienten – oder auf dich.
  • Nimm den kommunikativen Raum wahr, der im Kontakt mit deinem Klienten entsteht bzw. „geschieht“.
  • Tu das, was dir möglich ist, um diesen gemeinsamen Raum in guter Weise zu gestalten.

Wir lernen als Kind: „Schau mir in die Augen, wenn ich mit dir rede.“ Und auch als Erwachsene gilt die soziale Norm, Aufmerksamkeit durch Augenkontakt auszudrücken. Für ein Coaching ist dieser Zwang zum Blickkontakt jedoch nicht nützlich, wenn der Klient ganz „bei sich“ und nicht auf den Coach fixiert sein soll.

  • Nimm dich aus dem Fokus der Zeremonie. Halte nur den Raum, in dem der Klient eine Erfahrung machen kann.
  • Gib dem Klienten Zeit und Raum, ganz „bei sich“ zu sein. Vermeide Augenkontakt in Situationen, in denen der Klient den „heilige Raum“ erlebt.
  • Stille und ein freies Blickfeld öffnen den „heiligen Raum“ für den Klienten.

Indigene Kulturen denken i.d.R. zyklisch, d.h. in flüssigen Kreisläufen. Auch die antiken Griechen wussten schon: Alles fließt. (Heraklit) – Übertragen auf das Coaching heißt das: Ermögliche deinem Klienten, fließende Prozesse zu erleben. Die Annahme von „festen“ Zuständen ist häufig hinderlich. Klienten glauben, sie müssten sich in einen bestimmten – vermeintlich optimalen – Zustand bringen, der dann möglichst unverändert bleiben soll. Menschliches Erleben kann jedoch nicht festgehalten werden, sondern ähnelt eher einem „Zufluss“ – einer ständig in Veränderung befindlichen Bewegung.

  • Übe dich im „flüssigen“ Denken. Beachte Prozesse, nicht Zustände. Beachte, wie sie sich ständig verändern.
  • Beachte Zeiträume, nicht Zeitpunkte; Bewegungen, nicht Körperhaltungen; Richtungen, nicht Ziele; Veränderungen, nicht Fixpunkte.
  • Denke „flüssig“, um dem Klienten flüssiges Denken zu erleichtern.

Systemische Weltsicht indigener Kulturen

Das Weltbild des MC ist stark systemisch geprägt. Der Begriff „Systemisches Coaching“ ist inzwischen in aller Munde. Doch was gehört zum System des Klienten? In der Vorstellung des MC gehören dazu eben nicht nur die unmittelbaren Verwandten, sondern auch die längst verstorbenen Ahnen und Vorväter des Stammes. Auch Geistwesen oder Elemente der beseelten Natur sind immer Anteil des Systems des Klienten und stehen jederzeit als Ressourcen zur Verfügung. Beispiel: zeremoniell genutzte Steine haben als „Grandfather Rock“ hohe Bedeutung.

Doch ganz so unbekannt ist diese erweiterte Vorstellung von System auch bei uns nicht:

  • In systemischen Strukturaufstellungen i.S.v. Matthias Varga v. Kibed werden nicht nur die Vorfahren, sondern nahezu beliebige Elemente als Stellvertreter in der Aufstellung des Klienten zugelassen.
  • Für den Anthropologen und System-Kybernetiker Gregory Bateson drücken viele Rituale indigener Kulturen nicht naive Kausalzusammenhänge zur vermeintlichen Beeinflussung der Umwelt aus (Bsp. „Regentänze“), sondern vielmehr die spirituelle Verbundenheit mit der Natur.
  • In Formaten des NLP gibt es Mentoren, die als Ressourcen in allen Formen genutzt werden.
  • Und selbst seriöse Business-Coachs setzen Karten von sog. Krafttieren ein, um den Klienten in Resonanz mit bestimmten Prozessen zu bringen.
  • Virginia Satir, die große Dame der Familientherapie, hat ein Verständnis von Heilung, das demjenigen der Indianer sehr nah ist. Sie ist Ehren-Schamanin beim Stamm der Lakota-Indianer und dort unter dem Namen „Fliegende Adlerfrau“ bekannt.

Der MC sieht sich immer als Einheit mit dem Klienten; beide bilden ein gemeinsames, sich veränderndes System. Dies erinnert an die Sicht der systemischen Theorie nach Gregory Bateson und Heinz von Foerster, in welcher der Beobachter immer Teil des beobachteten Systems ist.

  • Stell dich nicht über den Klienten. Ermutige den Klienten von Anfang an, sich als gleichberechtigten Anteil des Coaching-Systems zu verstehen. Halte den Rahmen, in dem der Klient mit dir gemeinsam handelt und Erfahrungen macht.
  • Übe dich in Demut und erliege keiner Machbarkeits-Phantasie. Versichere dir immer wieder, dass du und der Klient ein sich veränderndes System seid, dass wiederum Anteil eines größeren (sich verändernden) Systems ist.

Zugänge zum „heiligen Raum“ der Kommunikation

Der MC stellt einen Erlebnisraum zur Verfügung, den der Klient mit seinen eigenen Erfahrungen füllen kann. Es geht dabei nicht darum, Lösungen und Antworten im gegenständlichen Sinne zu geben, sondern vielmehr einen Zugangsweg aufzuzeigen, oft über die eigene sinnlich-körperliche Erfahrung.

  • „What you give you get.“ Bedeutet: Vertraue auf die Eigenverantwortung des Klienten. Mute sie ihm zu. Nur so lernt er, sich selbst zu führen.
  • Bewegung tut dem Denken gut. Lasse den Klienten seinen Körper nutzen, um Erfahrungen zu machen. Bewegung stimuliert das Gehirn, „verflüssigt“ das Denken und unterstützt mit dem Körpergedächtnis das Erinnern an die gemachten Erfahrungen.

Metaphern sind eine weitere wunderbare Möglichkeit, gedankliche Räume zu öffnen. Sie bieten die Gelegenheit für Lösungswege, ohne dabei aufdringlich zu sein. Angebotene Lösungen können angenommen werden, müssen es aber nicht. Durch ihre unspezifische – eben „metaphorische“ – Art, erlauben sie dem Klienten, die geschilderte Geschichte oder Aspekte daraus auf sein eigenes Leben zu beziehen. Kleine Lehrgeschichten und Metaphern arbeiten direkt oder indirekt mit Bildern und bleiben so leichter im Gedächtnis. Eine gute Metapher kann der Dreh- und Angelpunkt für ein ganzes Coaching werden.

Dazu ein Beispiel: Im Vorgespräch zu einem Coaching berichtete eine Führungskraft, dass er sich an „vorderster Front, als Krieger“ an der Seite seiner Mitarbeiter sehe. Die Metapher, sich stattdessen häufiger als „Feldherr auf dem Hügel“ zu sehen, war ein Augen öffnender Aha!-Moment für den Klienten und zog sich später durch das gesamte Coaching.

Ein MC wird, ähnlich wie ein guter Coach, persönliche Anekdoten und seine eigenen Erfahrungen schildern. Die Einsicht des Coachs wird für den Klienten nachvollziehbar. Auch Geschichten von eigenen Fehlern des Coachs sind hilfreich, denn Fehler sind menschlich. Das Amt des Coachs ist in dieser Hinsicht eben nicht identisch mit dem des „besser wissenden“ Lehrers oder Vorgesetzten. Ein weiterer Vorteil: Eine persönlich erzählte Geschichte  kann nie „falsch“ sein und weckt seltener das Bedürfnis nach Widerstand und Gegenrede beim Klienten. Dies gilt insbesondere, wenn der Coach hier mit gutem Beispiel voran geht und aus der Ich-Perspektive erzählt, statt der Versuchung zu erliegen, über ein Thema zu „dozieren“.

Metaphern-Geschichten eignen sich hervorragend, um den Rahmen des Coaching (oder auch eines Trainings!) zu gestalten. Wer zum Einstieg, zum Ende hin, oder als Input vor oder nach einer Pause, eine kurze Geschichte erzählt oder vorliest, setzt den Rahmen und bietet einen gedanklichen Impuls, der anregen oder auch ein Thema einleiten kann.

  • Übe dich darin, in Bildern zu denken. Nimm kleine  metaphorische „Verknüpfungen“ und Analogien in der Welt wahr.
  • Lege dir einen Vorrat guter Geschichten an.
  • Erzähle auch persönliche Anekdoten – sie bringen dich dem Klienten näher.
  • Gehe dorthin, wo der Klient steht und lade ihn dann ein, seine eigenen Zugänge zum „heiligen Raum“ zu finden.
  • Sei authentisch. Führe den Klienten nur dorthin, wo du dich selber wohl fühlst und wo du überzeugt hinter Methoden und Denkweisen stehst.

Praxis-Tipps: Sprache ist mächtig – wähle sie sorgsam! Die Unterschiede in Formulierungen sind häufig nur klein – in ihrer Wirkung jedoch gewaltig. Der Klient wird deutlich seltener in Widerstand gehen und sich häufiger auf ungewöhnliche Übungen und Denkanstöße einlassen.

  • Lade den Klienten in eine gedankliche Welt ein – drücke sie ihm niemals auf. Formuliere nicht: „XY ist so.“ – z.B. „Über Ihnen schwebt ein Energieball…“ –, sondern besser: „In der Vorstellung einiger Kulturen …“ oder „Manchmal ist es nützlich, sich vorzustellen …“
  • Hole dir die Zustimmung des Klienten ab: „Sind Sie neugierig genug, etwas Neues auszuprobieren? Haben Sie Lust auf eine etwas ungewöhnliche Übung?“ Die Technik des „Yes-Set“ kann hierzu ebenfalls hilfreich sein.
  • Sei kein Missionar. „Verkaufe“ keine Spiritualität und bewirb kein Dogma. Erlaube jedem Klienten seine eigene „Glaubensrichtung“.