Jedes Jahr das gleiche Spiel: Zu Neujahr fassen viele Menschen gute Vorsätze. Und schon einen Monat später ist es oft „Essig“ mit den zahlreichen, ambitionierten Vorhaben. Wir sind sprichwörtlich sauer auf uns selbst, dass wir wieder mal ein Ziel nicht erreicht haben. Ein Spiel mit eingebauter Frustrationsgarantie. In diesem Beitrag wollen wir Sie einladen, mit „indianischen“ (bzw. indigenen) Augen auf das Jahr zu schauen.

Wie das aussieht? Schauen Sie selbst!

Das Leben als Leiter – oder als Entwicklungsspirale?

Hier bei uns in der westlichen Welt haben viele Menschen den Kontakt zur Natur – auch ihrer eigenen Natur – verloren. Der technische Fortschritt suggeriert, dass es „immer vorwärts“ geht. Mit jedem Schritt bewegen wir uns scheinbar auf einem Weg, der uns von einem Ort A an einen Ort B führt. Wir erklimmen Karriereleitern und steigen die Stufen des Erfolgs hinauf. Das Zeitverständnis der westlichen Welt ist eindeutig linear: Es gibt einen Anfang und ein Ende – und beide Enden liegen möglichst weit auseinander und verlaufen typischerweise von links nach rechts. Im „Erfolgsfall“ ist B „schneller, höher, weiter“ als A. Wir führen innerlich Ziel-Listen, die es abzuhaken gilt. Die „guten Vorsätze“ zu Beginn eines Jahres gehören häufig auch dazu. Indigene Kulturen haben hingegen i.d.R. ein zyklisches Weltbild. Die Welt dreht sich nicht nur – sie wiederholt sich auch. Viele Beobachtungen aus der Natur stützen diese Sichtweise: Der Tag- und Nacht-Rhythmus; der Mondzyklus; die immerwährende Abfolge der Jahreszeiten; die wiederkehrenden Zugrouten der Tiere – und letztlich auch das Werden und Vergehen alles Lebenden. Die Welt als endloser Kreislauf. Aus der genauen Beobachtung der natürlichen Abläufe haben die indigenen Völker Nordamerikas ein Modell entwickelt: Das Medizinrad.

Aufgabenlisten – zyklisch gedacht

Was ist nun der Unterschied zwischen dem linearen und dem zyklischen Zeitverständnis?  Im linearen Denken türmen sich neue Aufgaben wie ein Berg vor uns auf. Und die Liste wird länger und länger. Und nur ganz am Ende – bei erfolgreichem Abschluss – erlauben wir uns, einen Punkt abzuhaken und die Aufgabe von der Liste zu nehmen. Für kleinere Aufgaben ist das noch überschaubar. Für größere und längerfristige Vorhaben kann dies jedoch frustrierend sein. Ebenso für wiederkehrende Aufgaben und Prozessziele, die sich prinzipiell nur während des Tuns verwirklichen. „Mehr Sport machen“ kann man auf seiner inneren Liste erst dann „abhaken“, wenn man gänzlich damit aufhören will. Die Grundannahme des zyklischen Zeitverständnisses ist, dass jede Aufgabe Teil eines größeren Zyklus ist. Die Aufgabe hat somit bereits schon lange angefangen, bevor wir sie angehen. Der Frühling hat seinen Ursprung im Winter: Ohne die Kälte und Farblosigkeit des Winters würden wir das aufkeimende Wachstum im Frühling nicht als so bunt und aktivierend erleben.

Zyklisch = immer gleich?

Das zyklische Verständnis von Zeit wird gelegentlich verstanden als die Wiederholung des immer Gleichen. Doch das ist aus unserer Sicht nicht nützlich. Auch wenn sich Tag und Nacht, der Frühling oder auch das menschliche Altern immer wiederholen, so sind sie jedoch nicht unveränderlich. Vielmehr liegt in jeder Wiederholung eine Transformation oder sogar die Chance einer gewollten Veränderung. Kein Frühling ist wie der vorherige; und auch kein Tag – selbst wenn es uns manchmal so erscheint. Das zyklische Verständnis in dieser Form beinhaltet sowohl die Wiederholung als auch den Wandel. Das passende Bild dazu könnte eine Spirale sein: Der sich wiederholende Kreis, der eine zusätzliche Entwicklungsdimension hat.

Wachstum = immer höher?

BaumstammProbieren Sie es mal mit Dickenwachstum! – Ein junger Baum wächst sehr schnell in die Höhe. Jedes Jahr ist er ein Stück größer als im Vorjahr. Doch dieses Höhenwachstum verlangsamt sich nach den ersten Jahren bis es fast ganz zum Erliegen kommt. Doch der Baum wächst weiter – und zwar in der „Dicke“. Die Jahresringe sind sichtbares Zeichen dafür, dass der Baum auch dann noch wächst, wenn er in der Höhe stagniert. Und es sind gerade die harten Phasen (ein kalter Winter oder ein durchgezogener Waldbrand), der die Ringe härter und den Baum damit widerstandsfähiger werden lässt. – Übertragen auf den menschlichen Kontext:

  • Wo habe ich das Gefühl zu stagnieren?
  • Wie könnte ich auf die Situation schauen, um dies als Dickenwachstum zu erleben?
  • Was kann ich dazu beitragen, um aus dieser Situation gestärkt hervor zu gehen?

Und noch eine nützlicher Aspekt zyklischen Denkens: Kürzlich haben amerikanische Forscher festgestellt, dass eine zyklische Perspektive hilft, Menschen beim Sparen zu unterstützen.

Die vier Säulen des Lebens

Nachfolgend einige Anregungen, wie man mit einem zyklischen Zeitverständnis auf das Jahr schauen kann. Vergegenwärtigen Sie sich zunächst die vier Bereiche oder „Säulen“ Ihres Lebens:

  • Das Körperliche: Mein Körper und alle damit verbundenen Funktionen. Wie gut schlafe ich? Wie fit fühle ich mich körperlich? Habe ich ein erfülltes Liebesleben?
  • Das Geistige: Wie zufrieden bin ich mit und in meinem Beruf? Oder kann ich mich in einer anderen Tätigkeit verwirklichen? Bilde ich mich fort oder beteilige mich an Diskussion, um meinen Geist zu schulen?
  • Das Soziale: Wie steht es um meine sozialen Beziehungen? Wen könnte ich um 3 Uhr morgens im Notfall anrufen? Wer würde mich in einem solchen Fall anrufen? Wie ist mein Verhältnis zu meiner Familie?
  • Der höhere Sinn: Was ist größer als ich selbst? Für welche „höhere Mission“ bin ich unterwegs? In welcher Form haben Religion oder Spiritualität für mich eine Bedeutung?

„Und was ist mit Geld und Wohlstand?!“ wird sich so mancher jetzt fragen. Geld ist in diesem Säulen-Modell lediglich ein Mittel zum Zweck. Es ist ein Werkzeug oder eine „Form von Energie“, welche die oberen Bereiche unterstützen kann, jedoch an sich keinen Wert hat. Oder anders gesagt: Was würde tatsächlich noch fehlen, wenn alle oberen Bereiche in bester Weise gelebt werden?

Der Jahreszyklus

Das Medizinrad ist ein vielschichtiges Konzept, das auf vielfältige Weise eingesetzt und interpretiert werden kann. Für die Betrachtung hier beschränken wir uns auf den zyklischen Aspekt und verankern diesen an die vier Jahreszeiten. Nachfolgend eine Übersicht von korrespondierenden Zyklusabfolgen aus anderen Bereichen:

Jahreszeit Himmelsrichtung Menschenleben
Frühling Osten (Sonnenaufgang) Kind
Sommer Süden (Sonne im Zenit) Heranwachsender / junger Erwachsener
Herbst Westen (Sonnenuntergang) Erwachsener
Winter Norden (Sonne hinter dem Horizont) Elder (alter Mensch)

Zum Einstieg vergewissern Sie sich für einen Moment der besonderen Qualitäten der jeweiligen Jahreszeit. Stellen Sie sich am besten mit allen Sinnen die „Energie“ dieser Phase vor und was dies für Sie bedeutet.

  • Was ist der besondere Beitrag der jeweiligen Jahreszeit bezogen auf den gesamten Zyklus?
  • Oder anders gefragt: Was würde in den übrigen Jahreszeiten fehlen oder „schief laufen“, wenn die Jahreszeit „ausgefallen“ bzw. nicht ihrer Funktion nachgekommen wäre?

Anschließend beziehen Sie die Fragen auf einen oder ggf. mehrere Bereiche („Säulen“) Ihres Lebens. Es geht dabei nicht um die Frage, was Sie zu der jeweiligen kalendarischen Jahreszeit machen. Vielmehr sind bei der Reflexion über die eigenen Projekte zwei Fragen interessant:

  1. Als Analyse: Wo stehe ich gerade im Prozess der Jahreszeiten?
  2. Als Handlungsimpuls: Mit der Energie welcher Jahreszeit kann ich die nächsten Schritte gehen?

Frühling: Aufkeimende, neue Energie. Klare Luft, frisches Grün und die stärker werdende Kraft der wärmenden Sonne. Transformation.

  • Wo bin ich bereit zu investieren? Für welches kleine oder größere Projekt möchte ich nun den Samen säen? Wo bin ich bereit, Energie hinein zu geben, ohne zu wissen, dass die Saat auch schon dieses Jahr aufgeht?
  • Welches „zarte Pflänzchen“ darf sich nun entwickeln und bin ich bereit  zu hegen und zu pflegen?
  • Für welche „gute Überraschung“ bin ich in dieser Zeit offen? Was trage ich aktiv dazu bei, dass mir diese Art von Überraschungen widerfahren können?

Anwendungsbeispiele aus den Säulen des Lebens:

  • Eine neue Sprache lernen.
  • Die Essgewohnheiten umstellen.
  • Auf eine Party gehen und unbekannte Leute ansprechen.

Sommer: Kraftstrotzende Energie und volle Blüte. Aktiv und lebhaft. Lange Tage. Wärme und Helligkeit.

  • Was bin ich bereit weiter gedeihen zu lassen und „mit Herzblut“ (weiter) zu unterstützen?
  • Wo wird meine innere Energie (z.B. auch meine Gefühle oder meine Leidenschaft) deutlich sichtbar?
  • Wo kann ich die Schönheit der bereits erzielten Erfolge erkennen und genießen?
  • Wen lasse ich an meiner eigenen Schönheit teilhaben?

Anwendungsbeispiele aus den Säulen des Lebens:

  • Jemandem von Herzen danken.
  • Freunde zum Essen einladen.

Herbst: Ernte einfahren. Reifeprozesse. Kürzer werdende Tage und beginnende Dunkelheit.

  • Wo kann ich mich in Demut üben?
  • Wo bin ich bereit, ein Opfer zu bringen?
  • An welcher Stelle ist jetzt mein Durchhaltevermögen gefragt?
  • Wo ist es an der Zeit, mich selbst anzunehmen – als körperliches und geistiges Wesen?
  • Wo würden Meditation oder Gebet mir gut tun?

Anwendungsbeispiele aus den Säulen des Lebens:

  • Jemandem Hilfe anbieten.
  • Selber Hilfe annehmen bzw. um Hilfe bitten.

Winter: Zur Ruhe kommen und sich verabschieden. Stille und Dunkelheit. Stagnation.

  • Von welcher Vorstellung kann ich mich jetzt gut verabschieden?
  • Welche alte Beziehung (Kind, Eltern, Liebschaft) kann ich nun innerlich „gehen lassen“?
  • Was kann ich jetzt ruhen lassen, um vielleicht zu einem späteren Zeitpunkt wieder darauf zurück zu kommen?
  • Für welche neuen, kommenden Aufgaben kann ich jetzt Kraft schöpfen und mir Ruhe gönnen?

Anwendungsbeispiele aus den Säulen des Lebens:

  • Trauer um eine vergangene Zeit zulassen.
  • Den Keller entrümpeln und sich vom alten Trödel trennen.

In diesem Sinne: Ein lebhaftes und vielfältiges neues Jahr mit der guten Energie aus allen Jahreszeiten!

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